“Die Aufgabe des Projektleiters gleicht eher der eines Moderators” – Johanna Leissner über interdisziplinäres Projektmanagement

In den Jahren 2009 – 2014 wurde eines der anspruchsvollsten europäischen Projekte zur Erhaltung des Kulturerbes von einem wirklich interdisziplinären Team aus Forschung sowie Wirtschafts- und Sozialwissenschaften durchgeführt: “Climate for Culture (Klima für Kultur)”. Wir haben die ehemalige Projektkoordinatorin, Dr. Johanna Leissner (Fraunhofer Institut), zu ihren interdisziplinären Erfahrungen befragt.

Wer wie Dr. Johanna Leissner fünf Jahre lang interdisziplinär an einem hoch-innovativen Thema des Kulturerbe-Erhalts gearbeitet hat, kennt die Anforderungen an diese besondere Form der Zusammenarbeit. Aus ihren Aussagen lassen sich klare Empfehlungen ableiten, die für ein erfolgreiches interdisziplinäres Projektmanagement relevant sind. Diese Empfehlungen werden in den HERITAGE-PRO-Leitlinien veröffentlicht, die im Herbst 2020 als Kompendium und Ergebnis des HERITAGE-PRO-Projekts vorliegen werden.

HERITAGE-PRO: Was waren die grössten Herausforderungen bei der Zusammenarbeit der sehr unterschiedlichen Disziplinen im Projekt?

Johanna Leissner: In diesem EU-Projekt hatten wir 29 verschiedene Institutionen aus 16 EU-Ländern. Die erste Herausforderung bestand darin, die Frage der Auswirkungen des Klimawandels auf das kulturelle Erbe aufzuschlüsseln, so dass jede/r Partner*in eine konkrete Vorstellung davon hatte, mit welcher Arbeit er/sie beginnen sollte. Eine weitere Herausforderung bestand darin, dass das Thema Klimawandel sehr komplex ist, und auch dies musste in die verschiedenen “Fachsprachen” übersetzt werden. Auch hier galt es, psychologische Hemmungen zu überwinden, nämlich zuzugeben, dass man etwas nicht wusste.

In unserem Team waren Physiker*innen, Chemiker*innen, Wandmalerei-Restaurator*innen, Museumsleiter*innen, Ökonom*innen und Bauphysiker*innen, dazu jung und alt, weiblich und männlich, kulturelle Unterschiede von West und Ost, Nord und Süd. Alle hatten unterschiedliche Vorstellungen, die es zunächst zu harmonisieren galt. Dies geschah nicht von selbst. Wir engagierten einen Coach für die interdisziplinäre Zusammenarbeit ein: Björn Ekelund aus Norwegen mit seiner Eisbrecher-Methode. Dieser gemeinsame Workshop dauerte zwei Tage und öffnete uns die Augen für die Perspektive des anderen. Niemand musste sich “schämen”, wenn er etwas nicht wusste oder verstand. Es ging nur um Zuhören und gegenseitigen Respekt. Das hat sehr geholfen.

HERITAGE-PRO: Wie haben Sie als Projektleiterin es organisiert, dass die einzelnen Disziplinen zusammenarbeiteten und es nicht zu “parallelen Aktionen” kommen konnte?

Johanna Leissner: Das jährliche Treffen des gesamten Teams für eine Woche sorgte dafür, dass es keine Parallelaktionen gab! Die Teilnahme an der Jahrestagung war obligatorisch, so dass jeder die Möglichkeit hatte, seine Arbeit vorzustellen und sich über die Arbeit der anderen Kolleg*innen zu informieren, so dass ein einheitlicher Wissensstand gewährleistet war. Die Abende verbrachten wir gemeinsam bei sogenannten Arbeitsessen. Das eine oder andere Glas Wein oder Bier half, die Barrieren abzubauen. Auch heute, nach dem Ende des Projektes vor mehr als 5 Jahren, gibt es immer noch eine gute und lebendige Zusammenarbeit, und es haben sich sogar Freundschaften entwickelt.

Meine Aufgabe als Projektleiterin war eher die einer Moderatorin – man sollte immer überparteilich sein und allen gleichermaßen zuhören. Es wurde sorgfältig darauf geachtet, dass die Projektleiterin immer mit allen spricht und nicht einige wenige bevorzugt.

HERITAGE-PRO: Was war bei der Zusammenarbeit anders als bei einem Team aus derselben Disziplin?

Johanna Leissner: Einerseits war es viel schwieriger, in einem so interdisziplinären Team zusammenzuarbeiten. Aber sobald die Anfangsschwierigkeiten überwunden waren, war es sehr bereichernd, und es entstanden neue Ideen. Komplexe Themen brauchen interdisziplinäre Teams, um Innovationen zu entwickeln, auch wenn es schwierig ist. Aber das kann man praktizieren und idealerweise in EU-Projekten. Solche Projekte sind quasi ein aktiver Beitrag zum europäischen Friedensprojekt. Dies kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.

HERITAGE-PRO: Wie würden Sie Erfolg in einem interdisziplinären Projekt definieren?

Johanna Leissner: Respekt, Toleranz, Zuhören, neugierig sein, vermeintlich “dumme Fragen” stellen, gemeinsam essen und trinken, die anderen als Menschen und nicht nur als Expert*innen kennen lernen. Bei solchen Projekten muss allerdings genügend Zeit eingeplant werden. 3-Jahres-Projekte mit einer minutiös geplanten Agenda lassen zu wenig Raum für echten Austausch und neue Ideen, wenn hoch-komplexe Themen erforscht werden sollen.

HERITAGE-PRO: Vielen Dank, Herr Dr. Leissner.

Dr. Johanna Leissner, Ausbildung zur Chemikerin in Deutschland und USA. Seit Oktober 2019 Mitglied der Expertengruppe “Kulturelles Erbe” der EU-Kommission (https://ec.europa.eu/transparency/regexpert/index.cfm?do=search.resultNew ). Sie arbeitet seit über 20 Jahren in der Kulturerbeforschung mit den Schwerpunkten Klimawandel, Umweltverschmutzung, Sensorentwicklung und Nachhaltigkeit. Koordinatorin des EU-Projekts “Klima für Kultur” (2009-2014; www.climateforculture.eu). Deutsche Delegierte für die Strategie des Europarates “Europäisches Kulturerbe im 21. Jahrhundert”. Seit 2005 wissenschaftliche Vertreterin der Fraunhofer-Gesellschaft bei der Europäischen Union in Brüssel. Mitbegründerin der Deutschen Forschungsallianz für Kulturgüterschutz im Jahr 2008 und des Fraunhofer-Netzwerks Nachhaltigkeit. Von 2001 bis 2005 Nationale Expertin der Bundesrepublik Deutschland für “Technologien zum Schutz des europäischen Kulturerbes” bei der Europäischen Kommission in Brüssel.

(Bildnachweise: Titel:  Gerd Altmann auf Pixabay CC, Screenshot Klima für Kultur, JL)

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